Kafkas geistige Welt – 158 Zitate aus dem Gesamtwerk
Eine ernsthafte und sinnbezogene Auseinandersetzung mit dem Roman „Der Prozeß“ muß zu der Einsicht und Erkenntnis führen: Wer Kafkas Angst nur als die Verzweiflung vor der Sinnlosigkeit deutet, nicht aber als das Erschauern vor der Stimme des Geistes, des Göttlichen im Menschen erkennt, wer die Hauptpersonen seiner Dichtungen nur trostlos scheitern und im Nichts versinken sieht, nicht aber die Notwendigkeit des Todes als denkbare Erlösung und Ursache aller Hoffnung versteht, verkennt das Spannungsfeld und die Größe dieser Kunst. Es gibt keine Dichtung Kafkas, die ohne Hoffnung ist! –
Daß der erste vordergründige Eindruck seiner scheinbar düsteren Bilderwelt zunächst den verborgenen Hintergrund und seine Sinntiefe verdeckt, hat in der anfänglichen Rezeption zu dem verhängnisvollen und folgenschweren Ergebnis geführt, dem Dichter gewollte Unverständlichkeit und Sinnlosigkeit zu unterstellen. Leider bestimmen diese einseitigen, meistens sogar irrigen Klischees bis heute noch immer den größten Teil der Forschung und trüben das Bild eines Dichters, der nach seinen eigenen Worten mit seiner Kunst ausschließlich danach strebt, „die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche“ zu heben.
Um die unhaltbare Vereinseitigung einmal sinnvoll auszugleichen, sind die folgenden Zitate Kafkas so ausgewählt, daß sie ein ergänzendes Gegengewicht darstellen. Sie sollen der scheinbaren äußeren Dunkelheit durch das innere Licht entgegenwirken, das in der Tiefe seiner Dichtung alles durchdringt und trägt. „Schatten löschen die Sonne nicht aus“, sagt er selbst und weist damit auf die Lichtquelle hin, die seine Kunst überhaupt erst ermöglicht und ihr eigentliches Wesen bestimmt. Obwohl zunächst zweifellos seine Klagen, seine Ohnmacht und Schwäche, seine Schlaflosigkeit und Verzweiflung den überwiegenden Teil seiner quälerischen Selbstaussagen kennzeichnen, sind sie letztlich doch nur die Folgen der „Leiden“, die mit der menschlichen Auszeichnung durch die Erkenntnis notwendig verbunden sind. Auf sie will der Künstler aber nicht verzichten, denn in ihr wurzelt für seine unstillbar „nach Wahrheit suchende Seele“ die unendliche Sehnsucht nach dem, was für Kafka stärker ist „als alles Angsterregende“, die Sehnsucht nach dem unbegreiflichen Geheimnis der Schöpfung.
Unter zwölf Stichworten sind die Gedanken und Aphorismen Kafkas zusammengefaßt, die er in seinen Tagebüchern, Briefen, Fragmenten und Gesprächen zu diesen entscheidenden Themenkreisen richtungweisend geäußert hat. Die aufschlußreichen Aussagen des Dichters erhellen und erklären die ungeheure Lebens- und Sterbenskraft der unentwegt und bis zuletzt tätigen Hauptpersonen seiner Kunstwerke.
In den Gesprächen mit Gustav Janouch (= J) läßt die Gedankenwelt Kafkas und ihre Übereinstimmung mit dem Gesamtwerk keine Zweifel an der Authentizität. Auf Zitate aus der umstrittenen erweiterten Ausgabe wird verzichtet.Alle anderen Abkürzungen beziehen sich auf die Ausgabe von Max Brod: T = Tagebücher; H = Hochzeitsvorbereitungen; Br = Briefe; F = an Felice; M = an Milena.